Ein Streifzug durch einen Berliner Brennpunktkiez, in dem Verständigung schwieriger wird, weil einigen die Worte fehlen und es anderen die Sprache verschlägt.

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Ein Streifzug durch einen Berliner Brennpunktkiez, in dem Verständigung schwieriger wird, weil einigen die Worte fehlen und es anderen die Sprache verschlägt.

-von Ute Hempelmann-

Im nobleren Teil vom Wedding, im Park neben dem Flussbett der Panke, macht die Kindergartengruppe Mittagspause auf einem Spielplatz. Die Kindergärtner (welch wunderbares Wort!) packen die Lunchpakete aus. Schwarze, braune, weiße Kinder, gerade mal groß genug, um über den rustikalen Parktisch zu spähen, beobachten mit Argusaugen was vor sich geht. „Ich habe Hunger“, kräht ein Dreikäsehoch. „Duuu, was gibt es heut zu essen heute?“ Der Betreuer verdreht die Augen: „Elefantenpopo“.  Das schallende Gelächter ist vermutlich bis Mitte zu hören.

Dass Verständigung zwischen Menschen so spielerisch leicht gelingen kann, ist ein Wunder, wenn man bedenkt, wie komplex der Vorgang ist. Um mitlachen zu können muss man wissen, was ein „Elefant“ und ein „Popo“ ist und dass beides zusammengesetzt hierzulande unter normalen Umständen nicht verspeist wird. Mit solch einer Anforderung an den rezeptiven (aufnehmenden, verstehenden) Wortschatz ist ein Teil der Kindergartenkinder in Berlin überfordert. Rund ein Drittel verfügt nicht über den entwicklungsüblichen Sprachschatz. Welch ein Drama: Trotz gesundem Hör- und Sehvermögen ausdrucksbehindert in einer Gruppe, die nach der Familie ein prägendes Umfeld ist.

 

Vom Verschwinden globaler Sprachvielfalt

Nach internationalen Zählungen beträgt die Summe aller weltweit gesprochenen Sprachen zwischen 6500 und knapp 7000. Wissenschaftler gehen davon aus, dass in den kommenden hundert Jahren ein bedeutender Teil verschwinden wird. Schon heute sprechen rund 80 Prozent der Menschheit nur 50 Sprachen.

Sprache ist ein Mittler. Nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen der gegenständlichen Welt und der Wahrnehmung einer Person. Vermutlich heißen Dinge nicht zufällig, wie sie heißen. Wilhelm von Humboldt hält in „Über die Natur der Sprache im allgemein“ fest, dass Bezeichnungen ein Eigenleben entwickeln: „Selbst bei empirischen Gegenständen sind die Wörter verschiedener Sprachen nie vollkommene Synonyma, umso mehr gilt dies bei Bezeichnungen für Gedanken und Empfindungen mit noch unbestimmteren Umrissen.“ Folgt man dieser Beobachtung, dann stirbt mit einer Sprache ein Teil der spezifischen Ausdrucksfähigkeit der Menschheit. Und verdeutlicht, warum der Kompromiss  eben doch nicht mit „compromise“ ins Englische übersetzt werden kann.

Selbstausdruck und Kommunikation

Ein Stückchen weiter pankeaufwärts komme ich mit einer Familie ins Gespräch: ein Teenager und seine Mutter, auf ihrem Arm ein Neugeborenes, das mit Brabbellauten im Gespräch mitmischt. Sie beobachtet, wie schnell sich Babysprache in der Erwachsenenwelt einbürgert. „Was soll das heißen? Atta gehen? Warum sagen die Leute nicht „spazieren“? Ihr 13jähriger Sohn sieht einen Trend, der darüber hinausgeht: „Ich finde, die Leute drücken sich nicht mehr gut aus“. Mit seinen schulterlangen Haaren sieht er nicht aus wie der typische „Klassen-Professor“ aus. „Wenn andere sich nicht differenziert ausdrücken, kann man nie ganz sicher sein, was sie meinen.“ Ein bisschen trotzig setzt er hinzu: „Ich will mich so gut ausdrücken, wie ich kann.“

Sprache als menschheitsgeschichtliche Errungenschaft

In der Evolutionsgeschichte der Menschheit hat sich vor rund 100 000 Jahren der Gaumen aufgewölbt und der Kehlkopf abgesenkt. Das war die körperliche Voraussetzung für eine artikulierte Lautbildung, die sprachliche Vielfalt erst möglich machte. Gleichzeitig setzt die Fähigkeit, sprechen zu lernen, auch eine gehörige Portion Sozialverhalten voraus, wie Kognitions-Biologen wissen. Kinder lernen sprechen durch Beobachten und Nachahmen; dazu gehört die Feinfühligkeit, den Blickkontakt und die räumliche Blickfolge zu deuten sowie Bewusstseinsvorgänge in anderen erahnen und sie zugleich in der eigenen Person erkennen zu können. Gefühle, Meinungen und Erwartungen müssen also bei sich selbst „richtig“ wahrgenommen werden, um gleichzeitig den individuellen Ausdruck der anderen zu verstehen.


„Sprache zeigt, woher Du kommst“

Weiter nördlich drängelt sich eine Schulklasse auf einem Steg am Pankeufer . Sie haben Behälter in der Hand – vermutlich nehmen sie Wasser – Proben. Nach der Bedeutung von Sprache gefragt, benutzen viele nicht das Wort „sprechen“, sondern „kommunizieren“. Kaum einem geht es fehlerfrei über die Lippen. Kaskaden von „Ahs“, holpriges Deutsch: „Das ist, damit man sich kommunizieren kann.“ Soziologen nennen das „antizipierendes Verhalten“. Man ahmt das Verhalten (hier: sprachlich) einer Gruppe nach, zu der man gern gehören möchte.

Ihre Eltern stammen aus der Türkei, Pakistan, Ghana. „Meine Muttersprache“, sagen sie und meinen die Sprachen der Länder, aus denen ihre Eltern eingewandert sind und die viele kaum besucht haben. „Ich kann meine Sprache fast gar nicht“, sagt das Mädchen mit ghanesischen Wurzeln.

Derjenige, der sich nahezu mühelos auf Deutsch ausdrücken kann, beharrt darauf, sich nicht wie ein Deutscher zu fühlen. „Türkisch gibt mir Selbstbewusstsein, weil ich da zu einem Stamm gehöre. Osmanen und so weiter.“

In Pakistan kennt man 20 Sprachen. Der junge Mann, der in Deutschland zur Schule geht, kämpft mit dreien: Nach dem Willen seiner Eltern soll er besser Urdu und Panjabi sprechen, um sich mit seinen Tanten unterhalten zu können.  „Sprache zeigt, woher Du kommst“, sagt ein Mädchen mit türkischen Wurzeln. „Deutsch spricht man, weil man muss.“

„Es gibt auch noch Körpersprache“ wirft ein Junge ein. Er wirft seinen Körper in Szene, post herum, obwohl er nicht über den Bizepsumfang verfügt, den man braucht, damit in den Berliner Brennpunkten noch was geht. Gewichte pumpen, Körper aufpumpen. Die körperliche Inszenierung stößt anderswo auf Ablehnung. „So untereinander kann man das cool benutzen. Aber in der Schule? Kannst du vergessen.“

Sprache und Wortschatz

Sich differenziert und qualifiziert ausdrücken zu können ist auch eine Statusfrage. Je größer der Wortschatz, umso gebildeter erscheint ein Mensch. Wikipedia argumentiert beim Thema „Wortschatz“ mit Quantitäten aus einer Untersuchung der 60iger Jahre:

Hier ist zu erfahren, dass man (….)  über 4.000 Wörter (…) beherrschen musste, um auch nur einen Auszug der Zeitung: Die Welt (….) lesen zu können, eine der in dieser Hinsicht anspruchsloseren Lektüren. Für Erwin Strittmatter Roman „Ole Bienkopp“ ist schon die Kenntnis von über 18.000 Lexemen vonnöten.“

Der Otto-Normalverbraucher kommt im täglichen Leben angeblich mit einigen tausend Worten aus und mit 1000 soll man sich leidlich in einem anderen Land verständigen können. Der Wortschatz eines 15-Jährigen wurde in Sprach- Untersuchungen auf etwa 12.000 geschätzt, für einen erwachsenen Muttersprachler werden 3.000 bis 216.000 Worte angegeben.

1995 schrieb Feridun Zaimoglu sein „Kanack Sprack“. Wissenschaftler haben später nachgewiesen, dass Etholekte, die Sprachstile einer ethnischen Minderheit, nur zum Teil auf Defizite zurückzuführen sind. Die Abweichung von grammatikalisch richtiger Sprache wird auch als Akt der Rebellion gewertet.

Ich habe was, was Du nicht hast

Die Gang hängt ab auf einer Parkbank nahe der Pankstraße. Die sieben Jugendlichen reagieren auf meinen Wunsch, über Sprache zu reden mit Witzen, die einen aggressiven Unterton haben. Es scheint, dass nicht klar ist, ob ich eine Bedrohung bin. Eine junge Frau, stämmig, resolut, staucht sie zusammen, zieht mich zur Seite. Es folgt ein Gespräch, das kein Dialog ist. Sie antwortet mit Statements wie ein abgezockter Politiker: „Ich bin stolz, Türkin zu sein. Oder Russin.“ Die Mutter ist Türkin, der Stiefvater Russe. Auf Nachfragen, ob das nicht komisch sei, weil sie doch in Deutschland lebe, bekomme ich stereotyp die mehr oder minder gleiche Antwort: „Deutsch ist eine Sprache, die ich sprechen muss, weil ich in Deutschland lebe.“ Nach rund drei Minuten ist das Gespräch beendet. Es ist alles gesagt.
 

Vom Verschwinden des Körpers und der Materie in der Sprache

Mit der Komplexität der Welt verkompliziert sich Verständigung. Während wir alle ein mehr oder minder klares Bild vom „Hund“ in uns tragen, fehlt dem Begriff „Nachhaltigkeit“ die dingliche Gestalt. Was der Begriff  bedeutet, wird frühestens an Hand eines Beispiels deutlich. Schnell entstehen Schein-Verständigungen. Das passiert oft in der digitalen Kommunikation, zumal dabei Gesichtsausdruck und Tonfall zur Einordnung fehlen. Wissenschaftler vertreten die Auffassung, dass wir zu mindestens 50 Prozent non-verbal kommunizieren.  Diese Informationen fehlen beim Austausch von Posts und Mails. Digitale Kommunikation ist fehleranfällig, wenn wir zwar wissen, was, aber nicht wie etwas gemeint ist.

Sprachlos im Wedding

In der Soldiner Straße gibt es an diesem Vormittag mehr Müllhaufen als Menschen auf der Straße. Zwar hat die Taz 2017 in einem Artikel  „Aufwerte-Prozesse“ ausgemacht: „Prenzlauer Berg ist nicht fern“. Doch gerade wenn sich im Kiez wohlige Stimmung breit macht, weil an einigen Plätzen die Zeit stillzustehen scheint und das gute alte Berlin noch spürbar ist, weht der Wind eine Kaskade aus Papier und Plastik über das Pflaster. Die Mehrheit der ausrangierten Möbel und Kleidungsstücke bewegt das nicht. Man muss den Trinkern, Junkies und selbsternannten Kiezbossen nicht persönlich begegnen: die Verwahrlosung ist ersichtlich.

Eine Mutter schlurft mit dem Gang der Ausgelaugten über den Gehsteig, ab und an brüllt sie in einer fremden Sprache lustlos eins ihrer drei Kinder an. Die Tochter, fünf oder sechs, wühlt im Müll, lädt sich einen Stuhl auf den schmalen Rücken. Eigentlich ist Kita- und Schulzeit. Sie merkt, dass ich sie ansehe, vermutlich entdeckt sie Mitgefühl in meinen Augen, sie nähert sich allzu vertrauensselig, fasst meine Hand, spricht. Ich verstehe kein Wort. Wie aus dem Nichts schießt ein Mann heran, brüllt etwas, dass ich nicht verstehe. Körpersprache und Tonfall signalisieren: „Verpiss Dich.“  Genau das tue ich, sprach- und hilflos.

Digitale Revolution

In einer Ausgabe der Bildzeitung lese ich später, dass nach Meinung der Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär (CSU), Schüler heute vor allem drei Dinge brauchen: „Ein Tablet, ihre Sportsachen und das Schulbrot“. Ein Besuch im Wedding sei der Ministerin angeraten.

Den Artikel schrieb die Journalistin Ute Hempelmann. Mit ihrer freundlichen Genehmigung wird er hier veröffentlicht. Redigiert von Mascha Malburg. Alle Rechte liegen bei SprInt (RAA)

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