Die GRÜNEN am Pfahl

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Was sagen uns die Wahlplakate, die derzeit überall im Wedding hängen? Und was sagen sie nicht? Als Sprach- und Bildungsprojekt ist es für uns im Medienhof-Wedding naheliegend, die Wahlplakate zu analysieren. Natürlich die Sprache, die sie benutzen, dann aber auch die Bildsprache, die bestimmte Botschaften vermittelt. Und schließlich beschäftige ich mich mit den Kandidaten und Themen der Plakate. Heute am Pfahl: Die Grünen.

Sprache

Zwei kurze Sätze: „Berlin leben. Mutlu wählen.“ Grammatikalisch sind sie nicht ganz richtig. Falsche Konjugation. „Berlin legrüne2bt.“ würde gehen, wenn es auch eine Personifikation der Stadt wäre. „Berliner leben.“ ginge auch. Aber „Berlin leben“? Kann man eine Stadt leben? Aus „Berlin leben“ folgt dann, sozusagen in einem kausalen Zusammenhang „Mutlu wählen“. Etwa nach dem Motto:  „Berlin leben heißt Mutlu wählen“. Dahinter steckt aber nicht nur der unausgesprochene Nexus, sondern natürlich auch ein Imperativ. Forderungen werden in Kreuzberg oder Mitte sehr gerne in dieser Form forumliert. „Media-Spree versenken.“ zum Beispiel oder „Naziaufmarsch stoppen.“ Normalerweise kommt hinter der Befehlsform zwar ein Ausrufezeichen, aber das wäre hier vielleicht zu aufdringlich gewesen. So heißt die Aufforderung einfach „Mutlu wählen.“ Das Wichtigste – der Name des Mannes, der gewählt werden soll – wird durch Schriftgröße und Farbe besonders hervorgehoben.

Inhaltlich sagt der Slogan „Berlin leben. Mutlu wählen.“ nicht viel aus. Die kurzen Sätze und die Punkte vermitteln zwar Entschiedenheit; aber das macht die Phrase nicht besser. Man erfährt nicht, was sein Programm ist. Eine solche Positionierung wäre für deutsch-türkische Abgeordnete heutzutage auch schwierig. Würde Özcan Mutlu schreiben: „ Für Menschenrechte. Gegen Erdogan. MUTLU wählen.“ hätte er wahrscheinlich schon zwei Drittel der türkischstämmigen Wähler aus dem Wedding gegen sich aufgebracht.

Bei den Kandidaten aller Parteien kommt es eher darauf an, möglichst gute Stimmung zu verbreiten und sich auf möglichst KEINE klare Positionierung einzulassen, weil das immer eine Gegenströmung erzeugt. Deshalb sind auf so vielen Plakaten inhaltsleere und unverbindliche Wohlfühlphrasen zu lesen wie „Mit euch. So geht’s“ (Die Linke) oder „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ (CDU). Mit einem solchen positiven, wiedererkennbaren Motto lässt sich zwar die entsprechende Partei oder Person bewerben; aber man muss sich inhaltlich nicht positionieren; man muss nicht sagen, was man wirklich will. Die Werbesprüche bleiben absichtlich oberflächlich und unverbindlich, der Wahlkampf erscheint dadurch seicht.

Themen

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Zur Fairness muss allerdings gesagt werden, dass die meisten Parteien, so auch die GRÜNEN, ihre Kandidatenplakate und die programmatischen Plakate getrennt haben. So gibt es rund um das Personenplakat von Özcan Mutlu viele grüne Hänger mit inhaltlichen Aussagen. Hier dominiert die Schrift, nicht die Person, und es sind Sätze zu finden wie „Wenn man gleich viel leistet, sollte Frau auch gleich viel verdienen.“ oder „Hol dir die Stadt zurück und bring sie voran.“ Auffällig ist, dass die Sätze meist zweiteilig sind und zwei Botschaften vermitteln. So auch der Spruch „Entweder Schluss mit Kohle oder Schluss mit Klima.“ Das ist zwar auch eher ein Slogan als ein Satz – aber geschenkt. Dahinter steckt auf jeden Fall eine programmatische Aussage.

Die Frage ist nur welche und wem sie sich erschließt. Dem durchschnittlichen Betrachter im Wedding, der in der Regel nicht täglich die FAZ liest und häufig nur leidlich Deutsch versteht, wahrscheinlich nicht. Der hätte wohl eher Fragen an das Plakat. Natürlich ist es schlecht, keine Kohle mehr zu haben, denkt er vielleicht, das Gefühl kenne ich. Aber was hat das mit dem Klima zu tun? Kann man das Klima kaufen? Klima könnte ein Mädchen sein. Wer macht denn Schluss mit ihr? Warum? Wahrscheinlich weil ihr Freund keine Kohle mehr hat, macht sie Schluss. Aber die Entweder-Oder-Funktion ist ja anders. Nicht mit Kohle habe ich Klima, sondern entweder habe ich Kohle oder ich habe Klima. Das würde bei einer anspruchsvollen Freundin namens Klima natürlich auch Sinn ergeben. Was soll bei all diesen Erklärungen aber der rote Eisbär im Hintergrund? Und was macht der Eisbär mit einer Sonnenblume vor seinem Geschlecht?

Ich bin mir sicher, dass für viele Betrachter das Plakat rätselhaft bleibt. So rätselhaft wie viele Schulbuchtexte für die Kinder und Jugendlichen sind, mit denen wir täglich arbeiten. Denn der Text verlangt fundierte Sprachkenntnisse und eine umfangreiche Kontextualisierung. Man muss tief in der akademischen Debatte stecken, um das Plakat auf Anhieb zu verstehen. Kohleverbrennung führt zum Treibhauseffekt, der Treibhauseffekt zerstört das Klima. Eine scheinbar kurze und plausible Kausalkette, die aber erst einmal geknüpft werden muss. Der Eisbär, der bald kein Eis mehr hat, gilt als Ikone der Klimaerwärmung, die rote Farbe zeigt seine Gefährdung an. Wer aber den intellektuellen, allseits informierten Betrachter bei einer solchen Plakatgestaltung voraussetzt, hat entweder keine Ahnung von der durchschnittlichen Wählerschaft im Wedding oder er zielt absichtlich auf die gebildete Mittelschicht als Wählergruppe und nimmt in Kauf, dass seine Inhalte von vielen nicht verstanden werden.

 

Bild

Zurück zu Özcan Mutlu. Wir hatten gesagt, dass die große, rot unterlegte Schrift den Namen des Kandidaten unterstreicht. Noch mehr tut das natürlich das Bild des deutsch-türkischen Politikers in Großaufnahme, was seine Person und seine Bedeutung hervorhebt. Er ist nicht bei einer Tätigkeit zu sehen, nicht mit anderen Menschen, sondern wie beim Passbild steht das Porträt für die Person selbst. Mutlu sieht freundlich und mit Jackett auch seriös aus; allerdings hat er keine Krawatte, was ihm ein wenig Lockerheit verleiht. Wahrscheinlich wurde in der Werbeagentur, die Herrn Mutlu berät, abgewogen, ob er seine Brille tragen soll oder nicht. Schließlich hat man darauf verzichtet. Die Offenheit und Lässigkeit war die wichtigere Botschaft im Vergleich zur intellektuellen Seriosität, die eine Brille verleiht. Lockerheit ist bei den GRÜNEN sozusagen Programm, genauso wie die grüne Farbe im Hintergrund und die Sonnenblume. Sie signalisiert Freude, Sommerfrische, Wärme, Natur – alles Gute also. Und es braucht wegen der Sonnenblume nicht einmal mehr einen Hinweis darauf, dass es sich hier um die Partei „Die GRÜNEN“ handelt. Deren Parteiname steht nirgendwo, das Wissen wird vorausgesetzt.

Da es im Hinter- und im Vordergrund auch viel rote Farbe gibt, ist es nicht ganz auszuschließen, dass das Bild schon auf die Wunschkoalition von Özcan Mutlu hinweist: Rot – GRÜN – Rot. Bleibt nur zu hoffen, dass die GRÜNEN darin nicht wie auf dem Bild zwischen den roten Flächen eingequetscht werden. Rot-Grün ruft bei den meisten Grün-Wählern positive Assoziationen hervor, Rot ist zudem eine Signalfarbe, die den Blick fängt. Rot hat aber noch eine dritte Funktion. Sie drückt eine Gefährdung aus. Nicht nur die Gefährdung des Eisbären wie oben beschrieben, sondern auf Mutlus Plakat sogar die Gefährdung des ganzen Planeten. Hinter ihm ist die Erdkugel in bedrohliches Rot getaucht. Öczan Mutlu und die GRÜNEN retten – so die unterschwellige Bildaussage – die Welt. Man muss sie dafür nur wählen.

 

Hintergrund: Der Kandidat

Früher, als ihn noch niemand kannte, trat Öczan Mutlu in Kreuzberg mit dem Spruch „Hallo, ich bin’s, Mutlu.“ an. Heute reicht „Mutlu wählen.“ Denn der ehemalige Ingenieur ist in Berlin bekannt geworden. Er war jahrelang bildungspolitischer Sprecher im Abgeordnetenhaus und kam 2013 in den Bundestag. Dort setzte er sich für bessere Bildungschancen ein. Schlagzeilen brachte ihm zwischenzeitlich ein Streit an einer Imbiss-Bude ein, bei dem herauskam, dass er im Ramadan ein Schweinefleisch-Würstchen gegessen hatte.

Ihm wurde häufig zum Vorwurf gemacht, er betreibe türkische Lobbypolitik. Immer stellte er sich allerdings auf die Seite der demokratischen Türkei. Seit sich die Lage dort verschärft hat, ist er vehement gegen Erdogans autoritäre Politik aufgetreten und hat auch die Armenien-Resolution unterschrieben, die den Türken einen historischen Völkermord zuschreibt. Sicher rechnet ein türkischstämmiger Abgeordneter damit, im Wedding und in Tiergarten bei türkischstämmigen Wählern zu punkten. Da die türkischstämmige Gemeinde aber zwiegespalten ist, kann er auf den Teil der konservativ-nationalistischen Stimmen nicht bauen. Sein Listenplatz 4 in Berlin wird ihn nur dann wieder in den Bundestag bringen, wenn die GRÜNEN bei den Wahlen gut abschneiden. Danach sieht es im Moment nicht aus. Und mit Eva Högel von der SPD hat er in Berlin-Mitte eine starke Konkurrentin, die vor vier Jahren das Direktmandat gewann. Die politische Zukunft von Özcan Mutlu steht also auf der Kippe. Vielleicht stimmen aber doch genug säkulare Deutsch-Türken und grüne Bildungsbürger für ihn.

Autor: Herbert Weber,  8. September 2017

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